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Sind wir vor dem Virus alle gleich? Entsteht nun eine neue Welt? Weit gefehlt, meint Georg Kohler, Emeritus für Philosophie an der Universität Zürich. Aber die Krise wird bereits begonnene Prozesse beschleunigen.
Georg Kohler
Nichts wird so sein wie vorher...
Wer das behauptet, hat nicht genügend nachgedacht. Gewiss: Nicht wenig hat sich verändert und sorgt für eine Welt, die in vielem anders aussieht als noch im Februar 2020. Aber diese Veränderungen sind im Grunde nichts anderes als Verschärfungen längst bestehender Verhältnisse und bereits um die Jahrhundertwende begonnener Prozesse. Deshalb drei Feststellungen:
Erstens: Wer behauptet, vor dem Virus seien alle gleich, ist entweder blind oder ein Dummkopf.
Das war ungefähr das Erste, was mir klar wurde. Wer - wie die Angehörigen meiner Peergroup - über genügend materielle, aber auch kulturell-bildungsmässige Ressourcen verfügt, kam mit dem Lockdown bestens über die Runden. Ich brauche das nicht auszumalen; ein Hinweis genügt: Wer über einen Garten verfügt, gute Freunde und den Geschmack für guten Wein und alles, was sich damit verbinden lässt, nicht verloren hat, der traf sich ein-, zweimal wöchentlich (mit gehörigem Abstand natürlich) zum abendlichen Lunch. Man plauderte, stellte fest, wie privilegiert man ist, und war sich einig, dass ungefähr so das Landleben der Gentry im 19. Jahrhundert gewesen sein musste - gemächlich, zuvorkommend im Umgang mit einander. Obendrein recht sparsam, wenn man es mit der aufwendigen Reiserei vergleicht, der man sonst nicht entgeht. Ich kann nicht klagen...
Ich hoffe, man überhört nicht meinen sarkastischen Unterton. Denn es braucht nicht besonders viel Fantasie, um sich andere, viel schwierigere Lebensumstände vorzustellen, die sehr viele Menschen und Familien auch in der Schweiz bedrängten. Und wenn man einmal damit begonnen hatte, sich die enormen Ungleichheiten vor Augen zu führen, die überall – hierzulande und erst recht in weniger freundlichen Gegenden - herrschen, dann musste man eigentlich zutiefst erschrecken. So ist mir die Wirklichkeit der sozialen Ungleichheit noch nie so stark bewusst geworden, wie in dieser – für mich selbst – sehr angenehmen Zeit.
Zweitens: Die Corona-Krise ist nicht primär disruptiv, sondern trendbeschleunigend
Um dies zu erklären, zitiere ich die klugen Worte des Kollegen Albrecht Koschorke: «Die Corona-Krise wird keine völlig neuen Realitäten erschaffen, sondern beschleunigen, was ohnehin schon im Gange ist: ökonomische Konzentration und Machtzuwachs digitaler Monopole; weiterer Niedergang des Kleinunternehmertums einschliesslich der Prekarisierung derjenigen, die davon leben […]. Auf der anderen Seite: Zuwachs der Beziehungsportale und erotischen Tauschbörsen im Internet; zunehmende Integrationskraft digitaler Vergemeinschaftungen; vermehrte Entstehung virtueller, im physischen Nahraum unsichtbarer Kollektive.» (Aus: Die Zeit, Nr.22, 20.5.20).
Anders gesagt: Die Corona-Krise hat gezeigt, dass die Mittel der digitalen Technologie bisher noch viel zu wenig genutzt worden sind. Mit ihrer Hilfe hat die Gesellschaft sich vor der Seuche schützen können, ohne gleich zum Stillstand kommen zu müssen. Und mehr als das: Die Krise hat uns die Vorteile der Digitalisierung vor Augen geführt, die wir bisher zu wenig wahrgenommen haben. Allerdings sollte man nicht vergessen, die Gegenrechnung zu machen: Virtualisierung des wahrhaft begegnenden Körpers, der Leibhaftigkeit, der direkten zwischenmenschlichen Erfahrung bedeutet den Verlust von Nähe in jeder Bedeutung. Tausend Facebook- Freunde ersetzen keinen Menschen, der wirklich da ist; wenn wir uns umarmen möchten oder jemanden brauchen, der uns wieder auf die Füsse hilft, wenn wir gestürzt sind.
So lautet meine zweite Feststellung: Die Krise zeigt, dass wir uns in einem sich beschleunigenden Prozess befinden, der schon lange unterwegs ist und den zu steuern und zu meistern wir – hoffentlich – dabei sind zu lernen.
Drittens: Die Schwächen einer immer dichter vernetzten Weltzivilisation sind unübersehbar geworden.
Wir leben in systemisch gefährlichen Abhängigkeiten, in einem sich laufend verdichtenden Netz, das keinen Platz für Redundanzen, zulässt. So sind wir beispielsweise abhängig von wenigen Lieferanten wichtiger Medikamente geworden. Fallen diese aus, wird es kritisch. Ausweichmöglichkeiten haben wir keine mehr. Das ist nicht zuletzt das Resultat eines radikalen Rentabilitätsdenkens, das dem Prinzip «The winner takes all» folgt. So entsteht ein dichtes, hoch konzentriertes Netz von Abhängigkeiten, das Alternativen erwürgt.
Diese Netzverdichtung hat die letzten dreissig Jahre der Weltgesellschaft geprägt und viele Vorteile für sehr viele Nutzer mit sich gebracht. Nun müssen wir lernen, dass Netzverdichtung auch unsere eigenen Spielräume einengt. Simpel gesagt: Wer sich im Netz verheddert, kann bewegungslos werden und verhungern. Insofern wäre Dezentralisierung das zentrale Thema, über das nachzudenken ist. Eine Einsicht, die freilich nicht mit dem Rückzug auf Nationalstaatlichkeit verwechselt werden darf.
9. Juni 2020
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